Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne

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Klein beginnen

Leben entsteht und entwickelt sich nach einem genetischen Code, in dem schon vieles grundgelegt ist. Bei Menschen (bei Tieren und Pflanzen ebenfalls) entsteht das Leben durch Befruchtung: ein einmaliges Geschehen, was von da an unweigerlich unser Sein in gewissem Grade vorherbestimmt. In einem kleinen Samen sind die Informationen für das sich entwickelnde Leben bereits enthalten. Aus einer Kastanie entsteht ein Kastanienbaum – und keine Eiche. Es gibt einen Code, dem dieses Wachstum treu folgt. Der Lebensprozess muss zwar auch äußere Einflüsse über sich ergehen lassen. Diese können aber nur bedingt dieses Leben verändern und beeinflussen.

Im Anfang ist alles enthalten – wenn ich daher den Anfang missachte, verrate ich alles. Die Kastanie kann nicht beschließen, eine Eiche zu werden. Daher lohnt es sich, immer mal wieder zum Anfang zurückkehren, um das Leben neu zu entdecken. Und da, am Anfang, finde ich jemand anderes, den Anderen – Gott. Denn niemand beginnt von sich aus: der Anfang ist das Geschenk eines Anderen. Das Leben erhält man ungefragt und umsonst.

„Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ (Gen 1,1)

Am Anfang von allem steht also ein anderer. Der Anfang geht nicht von uns aus. Wir sind nicht gefragt worden, wann wir wo geboren werden wollen etc. Das ist die allererste Aussage der Bibel. Wir sind es nicht, die den Anfang machen. Wir finden die Welt vor, wie sie gemacht wurde. Wir geben nicht die Start-Bedingungen vor. Die Dinge laufen nicht nach unserem (Bau-)Plan. Die Welt und die Realität gehorchen nicht uns. Wir werden in eine Welt hineingesetzt, die bereits in voller Fahrt ist, das Spiel hat schon begonnen.

Das Leben finden wir als Realität vor, die erst einmal so ist, wie sie ist – und nicht so, wie sie meiner Ansicht nach sein sollte/könnte/müsste. Die Weisheit besteht nicht darin, die Realität in ein schönes Schema, in eine schöne Theorie zu pressen. Wir finden eine Realität vor und der einzig intelligente Weg ist, sie anzunehmen. Die wahre Kunst ist es, die Situationen, in die mich das Leben ungefragt führt, anzunehmen, sie wertzuschätzen und nicht ideologisch dagegen zu kämpfen.

Das Leben ist wie Tennis, nur, dass der andere immer den Aufschlag hat. Ich muss den Ball so nehmen, wie er kommt. Um im Leben wirklich durchzustarten ist die erste Herausforderung, die Realität anzunehmen, wie sie ist. Und zwar so, wie sie heute ist. Ich stehe dort, wo ich stehe. Ich habe das erlebt, was ich erlebt habe. Ich habe das getan, was ich getan habe – und das nicht getan, was ich nicht getan habe. Ich starte von dort, wo ich stehe, nicht von dort wo ich gerne stehen würde. Und hier treffe ich oft einen meiner gefährlichsten Feinde: meine Erwartungen. Daher: Tief einatmen und alles, was geschehen ist verdauen. Ich stehe heute an einem gewissen Punkt meines Lebens.

Das Leben ist unvorhersehbar und die Welt ein Chaos

Die Dinge laufen nie so, wie wir sie erwarten und planen. Die Ehe, das Priester- und Ordensleben, sogar das Single-Leben und auch unsere Freundschaften sind nie genauso, wie wir sie uns ausmalen würden. Beziehungen sind immer ein bisschen Chaos. Ein Kind zu kriegen ist wunderbar, bringt aber auch das Leben durcheinander. Eine Krankheit bekommt man, ohne darin vielleicht den kleinsten Sinn entdecken zu können. Liebe Menschen sterben. In der Welt gibt es Kriege und Gewalt.

Die Welt ist ein Chaos. Und sie bleibt es. Das Kreuz Christi ist Torheit und Skandal (vgl. 1 Kor 1, 18.23). Ich bin Chaos. Ich werde arm geboren und bin nicht genug. Und so bleibe ich mein ganzes Leben. Und dann verbringen wir einen Großteil unserer Zeit damit, unser Leben minuziös zu planen. So als wäre es planbar. Und wir bleiben auf der Suche nach der Sache, der Person oder dem Moment, der uns hilft, endlich und endgültig Ordnung in unser Leben zu bringen.

Das Großartige an unserem Glauben ist, dass wir nicht nach der Perfektion suchen müssen, um anzufangen. Christus wird ins komplette Chaos hineingeboren. Für ihn gibt es nicht einmal eine vernünftige Unterkunft. Von einem König wird er verfolgt und muss den Beginn seines Lebens als Vertriebener in Ägypten verbringen. Wenn wir unser Chaos akzeptieren, können wir neustarten, mehr noch, erst dann können wir richtig starten. Dann wenn wir akzeptieren, dass wir nicht symmetrisch und perfekt sind, dass wir schon die ein oder andere Kante und Delle haben.

„und Gottes Geist schwebte über dem Wasser“ (Gen 1, 2b)

Das hebräische Wort, was hier für „schweben“ benutzt wird, kann auch mit „brüten“ übersetzt werden. Bevor wir begreifen können, was wir machen sollen, bevor wir kapieren, was unsere Aufgabe im Leben ist, was unsere Berufung ist, müssen wir unsere erste Berufung akzeptieren: das Leben. Und das ist keine leichte Aufgabe. Aber jemand hat uns ausgebrütet, kam auf die Idee, dass wir hier sein müssen, hat uns hier hingestellt. Ich bin kein Zufall.

Die Gefahr ist, dass wir uns dem Leben verwehren – und das vielleicht ganz unbewusst. Das Problem ist dann nämlich, dass alles, was wir im Leben tun, wie ein Narkotikum, wie eine Droge ist: ein Mittel, um den Schmerz zu betäuben. Weil wir unser Leben nicht für wertvoll halten. Dann beginnen wir, uns selbst zu zerstören und zu verachten.

Du bist schön! Du bist wunderbar! Du bist wichtig! – Das ist das, was uns Gott jeden Tag zuruft. Wie traurig sind junge Menschen (oder nicht mehr ganz so junge Menschen), die davon überzeugt zu sein scheinen, dass sie nichts wert sind und dass ihr Leben sinnlos ist. Bevor ich überhaupt (neu) beginne, bevor ich den ersten richtigen Schritt in meinem Leben tue, darf ich bereits sicher sein, dass ich etwas Gutes bin. Warum? Weil wir leben! Und das durch Gottes Willen!

Wachsen lassen

Inspiriert von Fabio Rosinis L’Arte di ricominciare.

P. Patrick Vey OMI